INTERVIEW
Tuan Anh Le
Leica S (Typ 007) mit APO-Macro-Summarit-S 1:2.5/120 (CS) und Leica SL mit Vario-Elmarit-SL 1:2.8-4/24-90 ASPH.
Tuan Anh LE
Tuan Anh LE ist Fashion-Fotograf und Leica-Botschafter Vietnams. Seine Serie „The Stranger“ erzählt vom Dasein in der großen Natur, in der der Mensch oft klein erscheint. Mit fantasievollen, surrealen Kompositionen spiegelt das Projekt auch eine Suche nach dem eigenen Ich wider.
Deine Serie heißt „The Stranger“, und die Bilder sind eingebettet in die große Natur. Wer ist der Fremde? Der Mensch in der Umgebung oder du als Fotograf?
Der Name „Der Fremde“ ist inspiriert von einem meiner Lieblingsbücher, „L’Étranger“ von Albert Camus. Die Fremdheit, die in meinen Fotos zum Ausdruck kommt, beruht auf zwei Perspektiven: Da ist zum einen die Natur als solche und zum anderen ich als Fotograf. Es gab Momente im Leben, in denen ich mich unter Druck gesetzt fühlte. Irgendwie entfremdet von meinem eigenen Ich, von meiner Art, Dinge einzufangen. Mit Sicherheit kam dieses Gefühl von der Gesellschaft, in der ich lebte. So beschloss ich, mich irgendwann in die Wildnis zu begeben. Ich fragte mich: Wie können wir heute Natur definieren? Was ist überhaupt die Natur? Kennen wir Natur in Zukunft nur noch in Form von Nationalparks, Naturschutzgebieten und dergleichen? Meine Antwort war: „Halte inne und denke nach!“ Nur so sollte ich eine klarere Vision für meinen nächsten Weg bekommen.
Du hast einmal gesagt, deine Bilder sind dazu da, eine Geschichte zu erzählen. Was genau wird in dieser Geschichte erzählt?
Vor fünf Jahren entschied ich mich, meinen Job zu kündigen und alle meine kreativen Aktivitäten einzustellen. Damals habe ich angenommen, dass dies der wichtigste Wechsel für mich war. Danach aber folgten Jahre unter Spannung. Jobs, die einen in den Strudel hineinzogen, bei denen Aufwand und Nutzen in keinem Verhältnis zueinander standen. Hinzu kam, dass sie bestimmt wurden durch ästhetische Standards, die mit mir, dem Schöpfer, nichts mehr zu tun hatten. Humanistische Werte verwandelten sich in bloße Arbeit. Zu diesem Zeitpunkt habe ich mein altes Ich verlassen und alle ungeschriebenen Regeln der Kreativbranche geleugnet. Genau diese Art von Entfremdung beschrieb einst Albert Camus mit seiner Hauptfigur in „Der Fremde“. Meursault hatte erkannt, dass er nicht mehr er selbst war. Er hatte sich in einen Fremden am Rande der Gesellschaft verwandelt, der sich von nun an weigerte, weiter zu „performen“. Dieses Gefühl der Entfremdung ist die vorübergehende, notwendige Bedingung, um Stopp zu machen. Anzuhalten, nachzudenken und sich zu erneuen. So ist auch diese Serie ein Produkt der Entfremdung. Sie zeigt meine Abkehr von den vertrauten Einstellungen des ausgestatteten Studios und meine Ablehnung der von der Gesellschaft diktierten ästhetischen Prinzipien. Ich wollte mich in der Natur verlieren, sie beobachten, fühlen und von Dingen überrascht werden, die einmal so intim schienen. Das alles hat mir offenbart, dass es einen inhumanen Kontext auf kultureller Ebene gibt, den wir immer nur als natürlich angesehen haben.
Weshalb spielt der Baum eine so große Rolle auf deinen Bildern?
Ich betrachte ihn als Symbol des Lebens. Einen Baum wachsen zu sehen, hilft mir dabei, wirklich nachzudenken.
Was ist deine Intention, den einzelnen, meist verlorenen Menschen auf oder vor großen Flächen festzuhalten?
Sind diese großen Räume, natürlich oder nicht, nicht alle von Menschen direkt oder indirekt für ihre eigenen Bedürfnisse geschaffen worden?
Genau so wie die Flächen tragen auch deine Modelle eine Struktur in ihrer Kleidung. Passt du sie als Fashion-Fotograf der Umgebung an?
Obwohl ich als Modefotograf arbeite, war Mode noch nie ein wichtiger Faktor für meine Fotos. Stoffe, Strukturen und Muster der Kleidung und sogar Modelle sind für mich nur ein Mittel, um meine Botschaft zu überbringen. Ich bin jedoch ziemlich wählerisch bei der Auswahl der richtigen Modelle sowie der richtigen Outfits.
Unter Naturwissenschaftlern kursiert der Spruch „Wer das Licht versteht, versteht das Universum“. Nahezu alle deine Bilder liefern einen Verweis auf das Licht, oft künstlich erzeugt. Es scheint, du benutzt es nicht nur als Stilmittel, sondern auch als Plot deiner Geschichte …
Fotograf zu sein, bedeutet für mich, ein Lichtschreiber zu sein. Meiner Meinung nach ist die Beleuchtung der schwierigste, aber interessanteste Aspekt eines Fotos. Das Arbeiten im Freien mit komplexen Beleuchtungsgeräten und -bauten kann jedoch dazu führen, dass ich meine Interessen und Gefühle für die Umgebung verliere. Ganz zu schweigen davon, dass es Zeit und Mühe kostet. Stattdessen experimentiere ich gern mit verschiedenen Arten der Mischung von natürlichem und künstlichem Licht. Das Arbeiten ohne komplexe Beleuchtungseinrichtungen ist auch eine Herausforderung, bei der ich schnell reagiere und mich an die Situation anpasse, um das zu bekommen, was ich will. Und aus Spontaneität entsteht Magie.
Neben Licht und Struktur – welche Stilmittel sind dir in deiner fotografischen Arbeit wichtig?
Raum. Ob innen oder außen.
Welches Equipment hast du für die Serie benutzt? Wurden die Bilder in der Nachbearbeitung nuanciert?
Diese Serie habe ich sowohl mit der Leica S als auch mit der SL aufgenommen. Seit ich Vietnams Leica-Botschafter bin, war es das Beste überhaupt, ich habe mich total gefreut. Die Postproduktion in meinen Arbeiten spielt keine wichtige Rolle, besonders bei denen nicht, die im Freien fotografiert wurden.
Bilden die Landschaften in deinen Aufnahmen den Fokus oder der Mensch?
Landschaften haben für mich ohne Menschen keine Bedeutung und umgekehrt. Der Schwerpunkt meiner Arbeiten ist die Beziehung zwischen den beiden Themen.
Das Faszinierende an deinen Aufnahmen ist die exakte Komposition gepaart mit der Schönheit aller Objekte – Traum oder Wirklichkeit?
Ich würde gern auf der schmalen Linie zwischen Traum und Wirklichkeit bleiben, dem Realen und dem Surrealen.