INTERVIEW
Bil Brown
Leica S (Typ 007) mit Elmarit-S 1:2.8/45 ASPH. (CS), Summarit-S 1:2.5/70 ASPH. (CS),Summicron-S 1:2/100 ASPH. und Leica SL mit LEICA SUMMICRON-M 1:2/35 mm ASPH., Leica M10 mit LEICA SUMMICRON-M 1:2/28 mm ASPH sowie Leica Q
Bil Brown Lisa Jarvis Gonn Kinoshita, Martin Christopher Harper Michelle Coursey, Tracy Alfajora Omayma Ramzy, Laura Raczka, Elaina Karras, Jared Lipscomb, Kasey Vanwey Chad Cameron, Thomas Kivell No Land, Drew Pluta Lisa Jarvis, Mynxii White Versace, dsquared, Julien Macdonald, Alexander McQueen, Pierre Hardy, Thom Browne, Alexandre Vauthier, Dolce & Gabbana, Noritaka Tatehana, Issey Miyake, Tom Ford, Faith Connexion, Monse, Emilio Pucci, Mulberry, Miu Miu, DIOR, Givenchy, Philosophy, Roberto Cavalli, Maison le faux, Balenciaga, Balmain, Dior Homme, CALVIN KLEIN 205W39NYC Tay Godsey, Alex Swan, Ema McKie, Simon Kotyk, Julie Lillemoen, Kris Kidd, Karsen Liotta, Siobhan O’ Keefe, Karsen Liotta, Richie Hines, Stevie DeFelice, Maja Brodin, Victoria Germyn, Ian Weglarz, Diana Karl, Mynxii & Sebastian
Inspiriert von Ira Cohens „The Mylar Chamber“ aus den 1960ern, fotografierte Bil Brown Dutzende von Mannequins für seine Neuinterpretation des Werks und kreierte in „Mylar“ überraschende bis psychedelische Deformationen und Metamorphosen – eine Hommage an den amerikanischen Künstler.
In „Mylar“ hast du grundsätzlich anders fotografiert als sonst. Woher kam diese Idee? Und wie hast du sie umgesetzt?
Ich war inspiriert von dem Projekt „The Mylar Chamber“ des Dichters und Fotografen Ira Cohen aus den 60er-Jahren. Die Serie ist gewissermaßen eine Hommage an seine Arbeit. Ira verwendete Mylar, um berühmte Persönlichkeiten aus seinem Bekanntenkreis in psychedelisch anmutenden Experimenten festzuhalten. In der ursprünglichen „Mylar Chamber“ waren zum Beispiel Künstler wie Jimi Hendrix zu sehen oder Mitglieder von Andy Warhols Factory, wie etwa Edie Sedgwick. Cohen hatte auch bereits eine Serie von Gedichten verfasst – in Zusammenarbeit mit Allen Ginsberg, der Jahre später mein Lehrer werden sollte, und anderen aus der Kunst- und Dichterszene der Lower East Side und Manhattans. Ich sehe diese Serie als Teil eines größeren Gesamtprojektes, in dem es mir darum geht, die Vorläufer meiner eigenen Arbeit zu studieren und auf der Basis von vorangegangenen Experimenten und historisch kontextuellen Werken zu arbeiten, um eine Art Stammbaum zu ermitteln und diesen in meiner künstlerischen Vorgehensweise zu verinnerlichen. Bruce Gilden sagte einmal zu mir, in der Fotografie sind wir sind alle Teil eines großen Ganzen – wir können nicht ignorieren, was vor uns war, dürfen es aber auch nicht direkt imitieren.
Wusstest du, was bei diesem Experiment genau entstehen würde, oder gab es ein Überraschungsmoment?
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was passieren würde! Mylar hat die reflektierenden Eigenschaften eines Spiegels, benimmt sich aber auch ein wenig wie eine Flüssigkeit – so ähnlich wie das verrückte Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt. Die Fläche bewegt sich erratisch, das heißt, wenn ich einen Blitz oder Stroboskoplichter einsetze, werden diese reflektiert und umranden das Sujet; gleichzeitig werden sie verzerrt, und zwar auf eine Weise, die meiner Meinung nach die Essenz einer Emotion zum Ausdruck bringt. Das Geheimnis dieser Bilder ist, dass ich sie zum Großteil direkt aus der Kamera übernommen habe, praktisch ohne Nachbearbeitung – außer dass ich vielleicht hier und da ein paar Schwarztöne intensiviert habe und die Bilder ein wenig nachschärfte, um mehr Klarheit zu schaffen. Im Prinzip zeigen die Bilder aber genau das, was die Kamera in diesem Bruchteil einer Sekunde eingefangen hat – also etwas, das in dieser Form nie mehr wiederkommt. Und genau das ist für mich die Quintessenz des fotografischen Bildes.
Du hast dafür mit einer großen Anzahl von Models sowohl in New York City als auch in Los Angeles gearbeitet. Warum diese Opulenz?
Das ursprüngliche Projekt von Ira Cohen zog sich über Monate oder eventuell sogar Jahre hinweg. Ich wollte also einen ähnlichen Sinn von Gemeinschaft vermitteln und auch verschiedene Sichtweisen darstellen – aber ich wollte es im Zeitraum von ein paar Tagen tun. Die Serie entstand an zwei Wochenenden, erst in Brooklyn und dann in Los Angeles – wobei ich nicht nur Models, sondern auch Persönlichkeiten einer neuen Generation einfing. Zum Beispiel wurde Jimi Hendrix’ damalige Rolle nun von Arrow de Wilde übernommen, der Lead-Sängerin der Band Starcrawler und Tochter der Fotografin Autumn de Wilde. Ich fotografierte auch Tali Lennox, die Tochter der Eurythmics-Sängerin Annie Lennox, und Karsen Liotta, die Tochter des Schauspielers Ray Liotta.
Wie konntest du so viele Mannequins zu einem bestimmten Zeitpunkt ins Spiel bringen?
Ich habe gute Verbindungen zu allen möglichen Leuten, Agenturen und so weiter. Sobald ich das Projekt erwähnte und meine Gründe dafür erklärte, waren die meisten sofort dabei. Es war nie schwierig, jemanden zum Mitmachen zu bringen. Von der Produktion her war das Ganze allerdings ziemlich verrückt! Die meisten Models wurden in jeweils zwei oder drei Looks gestylt. Wir richteten die Studios – mein eigenes in L. A. und ein gemietetes in Brooklyn – für einen raschen Wechsel der Looks ein; ich fotografierte jeweils mit mehreren Kameras und Brennweiten in einer Reihe, um die verschiedenen Effekte des reflektierenden Materials einzufangen. Manchmal mit Blitz, manchmal mit Stroboskoplichtern, manchmal mit und manchmal ohne den Einsatz von Gelen. Ich hatte einen Assistenten in New York und einen in L. A. Der individuelle Look jedes Models lag in den Händen der Stylistin und des Beauty-Teams. Es war eine echte Kollaboration – ich ließ meinem Team freie Hand.
Was macht es mit einem, wenn die eigene Idee von anderen abgeguckt wird? Du hast da ja böse Erfahrungen gemacht. Die Aufnahmen zu „Mylar“ entstanden Ende letzten Jahres und wurden teilweise schon veröffentlicht?
Ha, also es ist definitiv etwas kompliziert! Während Ira damals seine Sujets in die ikonischen, psychedelischen Klamotten jener Ära einkleidete, bat ich meine Stylistin Lisa Jarvis, Auswahlen aus den Modekollektionen führender Marken wie Alexander McQueen, Prada, Issey Miyake, Marc Jacobs und so weiter zu treffen. Das Resultat waren unglaubliche 54 Looks an 24 Models. Interessanterweise schien zur Zeit unserer Produktion niemand mit Mylar zu arbeiten. Und dann kamen plötzlich ein paar Frühlingskampagnen heraus, in denen Mylar und andere reflektierende Materialien verwendet wurden – und zwar genau, nachdem mein Art Cover während der Art Basel in Miami erschienen war. Aber so ist die Modewelt eben – die Leute hören von einer Idee, und die wird dann eine Weile lang zum Trend. Vielleicht habe ich ja etwas zum kollektiven Bewusstsein beigetragen – eigentlich toll! Anfangs war ich schon etwas betroffen, aber mittlerweile denke ich mir einfach, die Mode verwässert ein Konzept, aber die Kunst verleiht ihm Substanz. Wie es Yves Saint Laurent einst auf den Punkt brachte: ,,Die Mode gilt nicht als wahre Kunst, aber sie braucht Künstler, um fortzubestehen!“
Dein Leica-Equipment ist ja ziemlich umfänglich. Was hast du alles für diese Produktion verwendet und warum?
Ich arbeitete erst mit der Leica S Typ 007 und der SL, um den Großteil der komponierten Aufnahmen zu machen. Dann kamen die M10 und die Q zum Einsatz, um in Bewegung sein zu können und außergewöhnliche Perspektiven einzufangen. Mit der S und der Q fotografierte ich mit Autofokus, während ich an der SL ein älteres 40-mm-M-Objektiv verwendete und an der M10 das 28-mm-Summaron für einen authentischen Fokus. Ich wollte sehen, welche Kameras dafür am besten geeignet sind. Aus welchem Grund auch immer scheint die Wiedergabe der S und SL oft lebensnaher als die der Q und M10. Ich hätte auch mit einer analogen Ausrüstung gearbeitet, aber erstens wollte ich die Vorteile moderner Technologien nutzen und zweitens in der Lage sein, die Resultate nach jedem Shooting gleich zu begutachten. Dadurch war es mir möglich, meine Vorgehensweise laufend zu verfeinern und ein Verständnis für den unberechenbaren Charakter des Mylar-Materials zu entwickeln!
Hast du ein besonderes Faible für Leica? Worum geht es dir dabei?
Also, ich absolvierte ja meine künstlerische Ausbildung in erster Linie als Poet. Die erste Leica, die ich je zu Gesicht bekam, war Allen Ginsbergs M6, die er der Legende nach von Robert Frank bekommen hat. Ich habe über viele Jahre hinweg mit unterschiedlichen Kamerasystemen gearbeitet, konnte aber nie den Look produzieren, der mir vorschwebte, ohne ungemein viele Nachbearbeitungen zu machen. Mit meinen Leicas gelingt mir das aber mehr oder weniger beim ersten Versuch! Ich schätze die authentische Wiedergabe die, soweit ich sehe, ausschließlich mit Leica-Objektiven zu erreichen ist – und von meinem Standpunkt als Poet aus kann ich erahnen, woran das liegt. Ich habe den Eindruck, dass der Einfluss von Leica auf praktisch jeden Kamerahersteller bemerkbar ist – alle haben irgendwann versucht, den Leica-Look nachzuahmen oder auch ganze Kamerasysteme. Ja, natürlich hat es auch außerhalb der M, R, S oder SL Innovationen gegeben, und Leica ist auch nicht immer unter den Allerersten. Aber wenn diese anderen Hersteller zweimal im Jahr ihre Kameragehäuse ändern, kann man das auch als Anzeichen dafür sehen, dass sie vielleicht manchmal Technologien vorandrängen, die noch gar nicht ausgereift sind. Ich habe für so etwas keine Zeit. Ich will meine Kameras viele Jahre lang haben. Ich will, dass sie ein Teil von mir werden. Genau darum geht es meiner Meinung nach bei Leica: Eine Leica wird zu einem Teil von dir selbst.
Gibt es weitere fotografisch-filmische Aspekte, die du neuerdings ausprobierst?
Ja, ich habe angefangen, mich intensiv mit kinematografischen Projekten zu beschäftigen. Ich glaube, die meisten Fotografen schlagen früher oder später einmal diese Richtung ein, entweder als Regisseure oder als Kameraleute. Man muss nur daran denken, wie viele Leica-Fotografen später Filmemacher geworden sind – zum Beispiel Stanley Kubrick oder Robert Frank. Und sogar Rian Johnson habe ich am Set von „Star Wars – Die letzten Jedi“ mit einer M6 gesehen! Ich habe den Eindruck, dass uns die Leica-Ästhetik letztendlich zur Kinematografie hinführt. Erst fing ich an, Videoprojekte mit der SL und S zu drehen und sogar mit der Q. Mittlerweile habe ich eine komplette, dem Industriestandard entsprechende Kinokameraausrüstung hinzugefügt. Dazu verwende ich R-, M- und CW-Sonderoptic-Objektive, um meinen charakteristischen Look beizubehalten. Wir werden sehen, wie sich das Ganze in den nächsten Monaten entfaltet. Ich habe jedenfalls so einiges in Arbeit – darunter auch ein paar Überraschungen!
Du bereitest gerade eine Ausstellung vor. Kannst du uns verraten, was es wird?
Die Show heißt „From Protest to Performance“ und beinhaltet einige meiner neueren Werke von 2016 bis 2018. Sie wird dieses Jahr vom 26. Juni bis 6. August in der Leica Galerie Los Angeles zu sehen sein, mit einer Vernissage sowie einem Gallery Talk. Dabei habe ich das große Glück, meine Bilder gemeinsam mit Werken des legendären Jim Marshall sowie meiner guten Freundin und Kollaborateurin Mynxii White präsentieren zu dürfen. Meines Erachtens hat Paris Chong, unsere Galeristin, eine wirklich interessante Auswahl zusammengestellt, mit einem sehr ausgeprägten Sinn dafür, welche Arbeiten gut zusammenpassen. Auf alle Fälle ist dies keine gewöhnliche Show, sondern eine Ausstellung, die von einem tiefen Bewusstsein für kunstgeschichtliche Wurzeln und Entwicklungen durchzogen ist, die sich nicht davor fürchtet, gesellschaftliche Probleme aufzuzeigen, und die natürlich auch die Kraft der Fotografie zum Ausdruck bringen will. Das alles sind auch Dinge, die Leica für mich verkörpert, weshalb es eine besondere Ehre war, dieses Projekt zu verwirklichen!